Lage.
Auf dem linksrheinischen Wege zwischen Xanten und Kleve, der nach
Nymwegen in das benachbarte Holland weiterführt, liegt Kalkar, eine
der stillsten, aber eindrucksvollsten alten Städte der
niederrheinischen Landschaft. Von Pappeln begrenzte Straßen führen
aus der grünen flachen Niederung mit dem weiten Himmel auf den Ort
zu, als dessen Wahrzeichen Turm und Dach der St.-Nikolai-Kirche über
die Dächer der Häuser ragen (Bild 1). In einiger Entfernung liegen
südwestlich die welligen Hügel des „Reichswaldes“ (Bild: 4), der
sich von Kleve herabzieht, und zu dessen Füßen in früheren Zeiten
das oft wechselnde Flußbett des Rheines verlaufen war. Geblieben ist
davon ein alter Rheinarm, der — sich in Ley und Kalflak teilend —
Kalkar umschließt und gegenüber Emmerich in den Rhein mündet (Bild
2). Diese Lage zusammen mit der politisch-wirtschaftlichen
Entwicklung seit dem 14. Jh. hat die Geschichte der Stadt und ihren
Aufbau weitgehend bestimmt.
Geschichte. Die Reichswaldhöhen sahen in Römerzeiten eine Reihe
von Kastellen entstehen, von denen Burginatium Vorläufer der
späteren, den Grafen von Kleve gehörenden Burg Monterberg war (Bild
4, links). Dieser feste Grafensitz wurde im Laufe vieler
Jahrhunderte immer reicher ausgebaut, bis er im 17. Jh. durch
Kriegswirren allmählich verfiel, Im Schutze der Burg hatte sich . in
der Ebene das Dorf Alt-Kalkar gebildet, das jedoch nie zu
irgendeiner Bedeutung gelangte. Als im hohen Mittelalter die
stärkere Entwicklung des Städtewesens einsetzte, wurde in der Nähe
des Fleckens Alt-Kalkar auf einer Insel des Rheinnebenarmes die
Siedlung Neu-Kalkar (die heutige Stadt) gegründet, von der wir aus
dem Jahre 1368 eine Bestätigung ihrer sehr großen und freien
Privilegien durch den Grafen von Kleve erfahren. Nachdem 1417 die
Grafschaft Kleve zum Herzogtum erhoben worden war und der erste
Herzog Adolf († 1448) durch seine Heirat mit Maria, Tochter des
Herzogs Johann des Unerschrockenen (1404—1419) von Burgund, eine
enge Verbindung mit dem blühenden burgundischen Reich hergestellt
hatte, setzte die eigentliche Entwicklung Kalkars ein.
Wirtschaftliche Beziehungen zu den reichen flandrischen Städten, die
durch eine gleiche Industrie der Tuchfabrikation gegeben waren,
dienten dem wachsenden Reichtum der Stadt. Der Bau des Rathauses,
der Stadtmauer mit vier Toren und der Nikolaikirche bezeugen den
mächtigen Aufschwung des bürgerlichen Gemeinwesens in der ersten
Hälfte des 15. Jh. Ein kleiner Hafen vor dem nordwestlich gelegenen
Kesseltor und ein 10 m breiter Kanal, der mitten durch die Stadt
führte, konnten die vom Rhein kommenden Schiffe aufnehmen, die auf
dem damals noch schiffbaren Kalflak bis nach Kalkar. gelangten. So
standen dem Verkehr alle Wege offen, und die Hansestadt nahm Teil an
einer der stolzesten Epochen deutscher Städtegeschichte. 4000—5000
Einwohner mögen in jener Zeit den Ort bevölkert haben, der heute nur
noch 2000 enthält. Kalkar gehört zu den vielen Städten, die seit dem
16. Jh. nie mehr ihre Stadtgrenzen überschritten haben, ja diese
meist nicht einmal mehr ausfüllen konnten. Der Niedergang hängt
zusammen mit den politischen Ereignissen, die seit dem Ende des 16.
Jh. ununterbrochen Tod und Vernichtung über das Land gebracht
hatten. Pest und Raubzüge folgten einander in kurzen Abständen;
Spanier und Niederländer waren wechselnd die Herren und Unterdrücker
von Kalkar. Besonders der Dreißigjährige Krieg fügte der Stadt
großen Schaden zu. Zu den schon vorhandenen streitenden Parteien
kamen kaiserliche Truppen, Schweden, Franzosen, Hessen usw. hinzu.
Auch der Westfälische Friede von 1648 brachte noch keine Beruhigung.
Ein Zitadellenbau im Südosten von Kalkar aus der Mitte des 17. Jh.
zerstörte weitere Bestände alter Häuserreihen (Bild 3). Bei der
Niederlegung dieser Festung im Jahre 1672 wurden auch die alten
Stadttore (Bild 8) und der größte Teil der Mauer abgerissen. Als
dann endlich im 18. und vor allem im 19. Jh. eine Zeit der Ruhe und
des Friedens gekommen war, konnte sich der Ort nicht mehr erholen.
Trotz all dieser. Schicksalsschläge hat sich aber der alte
Stadtcharakter des 15. und 16. Jh. im wesentlichen bis heute
erhalten.
Stadtanlage. Die Planung von Kalkar ist bedingt durch die Lage
zwischen zwei Wasserläufen, die — eine längliche Insel bildend — der
Stadt ihre Form gaben (Bild 3 4). Der sich durch den ganzen Ort
ziehende Kanal ergab die Längsachse, die außerdem als Verkehrslinie
für die Schiffahrt bestimmend wurde. Die Querachse dazu wurde durch
die Landstraße gebildet, die von Kleve kommend durch die Stadt
führte und beim Hanselaer Tor wieder heraustrat. Am Schnittpunkt,
der zugleich Mittelpunkt des städtischen Lebens war und zudem auch
genau im Zentrum der Stadt lag, ergab sich von selbst die Lage des
Marktes mit dem Rathaus (Bild 5). Als ziemlich großes ungefähres
Rechteck ausgespart, bot dieser Platz genügend Raum für den reichen
Verkehr, der von Straße und Wasserlauf zugleich unmittelbar zum
Markt gelangen konnte. An der einen Schmalseite, zum Kanal hin,
erhob sich das freistehende Rathaus. Die Hauptkirche der Stadt, St.
Nikolai, wurde nicht auf den Marktplatz gestellt, sondern in einen
Winkel daneben, so daß wirtschaftlich-städtisches und kirchliches
Leben streng getrennt und doch nahe beieinander lagen. Die Kirche
selbst (im 15. Jh. Sitz eines Suffraganbischofs von Utrecht) hatte
ihren eigenen freien Raum, der wohl an den Stadtplatz grenzte, von
ihm aber durch eine Reihe kleiner, zur Immunität der Kirche
gehörender Häuser abgeteilt war. Dadurch wurde eine geschlossene
Raumwirkung des Marktes gesichert und trotzdem durch das
Herüberragen des mächtigen Kirchenbaus schräg gegenüber dem Rathaus
eine weitere Betonung und Belebung der Platzwände erreicht. — Die
übrigen Straßenzüge folgten notwendigerweise der Richtung der
Wasserarme; kurze Querstraßen teilten die langen Häuserblocks in
kleinere Rechtecke auf. Vernunft und Notwendigkeit liegen der
Stadtplanung zugrunde, die keinerlei malerisch-romantische Willkür
zeigt, wie man sie dem Mittelalter oft zu Unrecht andichtet, sondern
Klarheit und Regelmäßigkeit. Hatte schon das Verhältnis von
Marktplatz zu Kirche eine bewußte und doch künstlerisch wirkende
Berechnung gezeigt, so lassen die Größenunterschiede zwischen
Bürgerhäusern und öffentlichen Bauten dieselbe Gesetzmäßigkeit
erkennen. Rathaus und Kirche müssen beherrschend wirken, das übrige
hat sich unterzuordnen. Die etwas trocken wirkende Nüchternheit der
Stadtanlage wurde ausgeglichen durch leichte farbige Behandlung der
durchgehend in Backstein errichteten Bauten. Dazu kam die malerische
Wirkung des Kanals mit seinen Brücken, deren Fehlen der Stadt heute
sehr zum Schaden gereicht. — Die allgemeine Ähnlichkeit Kalkars mit
holländischen Städten erklärt sich aus dem gleichen Stammesund
Landschaftscharakter der benachbarten Gebiete und aus einer in
vielen Dingen gemeinsamen künstlerischen Entwicklung.
Rathaus. Die gleiche Klarheit wie den Grundriß und Aufbau der
gesamten Stadt zeichnet das Rathaus aus, das von 1436—1445 durch den
herzoglichen Baumeister Johannes errichtet worden ist (Bild 6). Es
stellt ein freistehendes mächtiges Viereck dar, das von einem
Zinnenkranz über kleinen Spitzbögen und Konsolen gekrönt wird. An
den Ecken ragen in der gleichen Form etwas höhere Erker auf, die nur
durch einen reicher gegliederten Sockel ausgezeichnet sind. Dieser
Sockel mit seinen Spitzbögen und die Fensterkreuze bestehen aus
hellem Haustein, der einen belebenden Gegensatz zum übrigen
Backstein bildet. Der schlanke achtseitige Treppenturm vor der Mitte
der Vorderfront wurde am Ende des 15. Jh. hinzugefügt. Ein kleines
barockes Glockentürmchen über dem hohen Schieferdach bereichert die
kräftige Silhouette. Ohne Schmuck durch Bildwerke oder gotisches
Maßwerk, Fialen usw. ruft der einfache Backsteinbau eine monumentale
wuchtige Wirkung hervor, die den weiten Platz mit seiner
Gerichtslinde und den umgebenden niedrigeren Bürgerhäusern wohl zu
beherrschen imstande ist.
Häuser und Tore. Die wie das Rathaus durchweg aus Backstein
errichteten Bürgerhäuser gehören, soweit sie alt sind, in der
Mehrzahl den beiden Jahrhunderten der Blütezeit Kalkars an (Bild 7,
8). Meist mit der Schmalseite zur Straße oder zum Markt stehend,
zeigen sie eine Reichhaltigkeit von einfachen Giebelformen, die mit
den bestimmenden Charakter der Stadt ausmachen. Schmal und hoch
steigt die Fassade auf und trägt als Abschluß einen Treppengiebel,
der als gestufter Zinnenkranz oder mit Fialentürmchen und kleinen
Spitzbogenfriesen ausgestaltet sein kann. Später finden sich
zwischen den einzelnen Stufen auch große volutenartig geschwungene
Verbindungen, die eine leichte Bewegung in das Stadtbild bringen.
Von unten aufsteigende Blenden mit rundbogigem Abschluß konnten
zuweilen auch die ganze Fassade eines Hauses gliedern (Bild 7). So
wurden mit einfachsten, dem Backstein angepaßten Mitteln
abwechslungsreiche Wirkungen erzielt, die den Anblick einer
Straßenzeile durch das unaufhörliche Auf und Ab der Giebel und durch
gelegentliche Überschneidungen angenehm belebten. — Sicherheit des
Formgefühls und maßvolle Zurückhaltung im Schmuckbedürfnis sind
Kennzeichen, die die äußere Erscheinung bestimmen.
Der Reichtum der
Bürgerschaft drückt sich durch die Kraft und Wucht der Bauwerke aus. Daß es daneben an Temperament und Gefühl für übersprudelnden
Formreichtum auch nicht mangelte, bezeugen die Altarschnitzwerke der
sog. „Schule von Kalkar" aus dem Anfang des 16. Jh. in St. Nikolai,
die den Namen der Stadt unter Kunstfreunden weithin bekannt gemacht
haben.
Reichere Formen fand man für die vier Stadttore, deren Erbauung wie
die des Rathauses und der Kirche unter der Leitung des Meisters
Johannes stattfand. Besonders prächtig wurde außer dem Montertor das
ehemalige Hanselaer Tor gestaltet, das mit seinen vielen abgestuften
Wehrtürmen dem nahenden Fremden ein eindrucksvolles und kräftiges
Bild darbot (Bild 8). Reichtum und Wehrhaftigkeit einer Stadt
zeigten sich häufig durch solche Bauten, die über die
Notwendigkeiten reiner Verteidigungszwecke hinaus eine für die
Stadtansicht bedeutende künstlerische Form erhielten. — Was heute
noch von Toren und Mauern erhalten ist, ist sehr wenig. Ein Rest der
alten Stadtmauer mit Stadtturm am Kesseltor, zu einem reizvollen
Gartenhäuschen umgebaut, spiegelt das Schicksal der Stadt wider.
Diese Stimmung des von früherer Größe abgesunkenen verträumten und
friedlichen Kalkar hat in einem Sohn der Stadt, Joseph von Lauff,
ihren beredten Schilderer gefunden. Das Haus zu den Sieben Linden in
der Grabenstraße, eine der wenigen freundlichen Bauten späterer
Zeiten, bewahrt neben einigen anderen Stellen die Erinnerung an
diesen Dichter, der den Namen Kalkars wieder vielen Deutschen im
Reiche vertraut gemacht hat.
Schrifttum:
-
Paul Clemen,
Kunstdenkmäler des Kreises Kleve, Düsseldorf 1892.
-
J. K. Wolff,
Geschichte der Stadt Kalkar, I'rankfurl a, M. 1893. IT, Schrader,
Kalkar, seine Geschichte und Kunstschätze, Kalkar 1929
-
R. Klapheck,
Kalkar am Niederrhein, Düsseldorf 1930.
FRITZ
BAUMGART, Bonn 1937. |